Der Improblog
Geheimnisse, Erlebnisse, Meinungen zu Improvisation und Theater
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In seinem aktuellen Beitrag wirft Matthias Anderegg einen kritischen Blick in die Medien und Theaterhäuser. Dabei stellt er fest, dass vieles, was andere als Innovation bezeichnen, im Improtheater schon lange Alltag ist.
Ich nehme diesen Blogeintrag zum Anlass, um ein paar Meldungen aus der Schweizer Presse etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
ARENA: Terror – Ihr Urteil
Kampfpilot Lars Koch hat ein entführtes Flugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen. Damit wollte er verhindern, dass die Terroristen die Maschine in eine mit 70’000 Menschen vollbesetzte Sportarena lenken konnten. Gedankenexperiment von Ferdinand von Schirach als erschreckend aktuelles Gerichtsdrama, in dem die Zuschauerinnen und Zuschauer – via Televoting – das Urteil fällen.
Für Improspieler ist das kalter Kaffee. Wir haben in unseren Improshows regelmässig Zuschauervotings. In unserem Improkrimi “Totgespielt” z.B. bestimmen die Zuschauer welche der vier Hauptfiguren als Opfer stirbt. Es freut mich jedoch, dass das Schweizer Fernsehen so langsam auch im dritten Jahrtausend angekommen ist. Bravo. Weiter so. Und wenn euch die Ideen fehlen, kommt doch einmal an eine unserer Improshows.
«Late Shift» – Interaktiver Kinofilm
In Tobias Webers interaktivem Thriller «Late Shift» dreht sich alles um Entscheidungen. Und auch das Publikum muss laufend entscheiden, wie der Film weitergehen soll. Mittels einer App können die Zuschauer übers Smartphone entscheiden, wie der Held Matt handeln soll. Je moralisch bessere Entscheidungen man treffe, desto positiver ende der Film in einem der sieben möglichen Enden.
Wow, krass, das ist ja voll innovativ. Hm. Ist es das wirklich? Nein, nicht wirklich. Zum Beispiel bei unserem improvisierten Format “Drama der Mehrheit”, einem Kooperationsprojekt des theater anundpfirsich mit der Zürcher Hochschule der Künste, darf das Publikum immer wieder anonym per Klickgerät abstimmen und so den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmen. Nix ist ab Konserve und anstatt sieben möglichen Enden, gibt es bei uns 10’000. Ach ja, und dafür mussten wir übrigens auch keine Smartphone App programmieren. Die Klickgeräte bekommt man im Fachhandel für Fr. 28.50 pro Stück.
«Das Theater schlurft zu oft durch die Archive» Tagesanzeiger, 28.01.2016
Stephan Müller, ehemaliger Leiter am Neumarkt, schaut zum 50. Geburtstag zurück und nach vorn: Manchmal kommts mir vor, als sei Theater bloss noch eine Art Liebhaberprojekt für Nerds und Senioren. Die Leute gehen lieber zu Vernissagen, in Clubs oder ins Kino. […] das Theater schlurft heute noch zu oft die Archive ab, wo Brecht und andere Klassiker stehen. Seine Forderung ist, dass wir uns nicht über die Codes einer versunkenen Welt verständigen. Gegenwart soll sich direkter, härter und rascher auf dem Theater durchsetzen, in zeitgemässen Formen ausdrücken.
Ja, Herr Müller, da sagen Sie was ganz Gutes. Inszeniertes Theater hat von seiner Struktur her natürlich eine lange Latenz. Bis die Themen der Gegenwart auf die Theaterbühne kommen, sind sie eben leider oft keine “Gegenwart” mehr. Hoch lebe die Improbühne, die tagesaktuelle Themen aufnehmen und verwerten kann. Bei uns ist Gegenwart noch Gegenwart!
«Schnell, lokal, zeitgenössisch» Tagesanzeiger, 23.06.2016
Neumarktchef Peter Kastenmüller [hatte] am Ende seiner Einstandssaison, im Sommer 2014, einen Einbruch der Besucherzahlen auf rund 10’000 melden müssen.
Hier hätte die Schlagzeile lauten müssen: “Rekord: das theater anundpfirsich verbucht fast halb so viele Zuschauer wie das Theater Neumarkt.”
Die Eigenfinanzierung habe man seit dem schwierigen ersten Jahr auf rund 20 Prozent verdoppeln können, sagt Geschäftsführer Michel Binggeli, und die Subvention pro Ticket dafür reduzieren auf etwa 280 Franken pro Karte – womit man mit anderen Häusern gleichauf liege.
Also wenn ich das richtig verstehe, heisst das, dass das Theater Neumarkt 20% der Einnahmen selber erwirtschaftet und sage und schreibe 80% von Subventionen lebt. Nicht schlecht. Und weiter, wenn ich z.B. für Fr. 30.- ein Theaterticket kaufe, dann bezahlt die Stadt Zürich weitere Fr. 280.- für mein Ticket. Hier hätte die Schlagzeile heissen sollen: “Grossartige Zahlen vom theater anundpfirsich: die Eigenfinanzierung liegt bei 100%”.
Das können wir schon lange!
Nach dem Studium all dieser Presseartikel und Formate komme ich zum Schluss: Improtheater ist aktueller, günstiger, flexibler und mit viel mehr Zuschauerinteraktion als andere Medien und Theaterformen. Kurz: Das können wir schon lange. Impro ist einfach geiler. … Oder bist du anderer Meinung?