Der Improblog
Geheimnisse, Erlebnisse, Meinungen zu Improvisation
Dieses Mal wagt Matthias Anderegg einen persönlichen und familiären Blick in die Vergangenheit. Innerhalb von gerade einmal zwei Generationen ersetzte der Profi für Business-Improtheater den nicht minder professionellen, melkenden Bauernsohn. Anhand eines Fotoalbums aus dem vergangenen Jahrhundert stellt Matthias dabei die Frage, wie wichtig und gross der Wille zur Veränderung bei den Menschen (vor allem beruflich) war und ist.
Vor ein paar Tagen habe ich ein altes schwarz-weiss Fotoalbum meiner Grosseltern angeschaut. Mein Grossvater – Wilhelm Anderegg – wurde im Jahr 1882 als drittes von neun Kindern im Toggenburg geboren. Für den einfachen Bauernsohn war im Toggenburg nicht genügend Land vorhanden, also zog er ins Zürcher Oberland, wo er als Melker arbeitete und später einen eigenen Hof erwarb.
Ich stellte mir folgendes Gespräch mit meinem Grossvater vor, den ich nie kennengelernt habe: “Du Grossvater, ich arbeite als Improtheater-Schauspieler und -Trainer”. “Aha, schön. Und wem nützt das, was du machst?” “Mit meiner Arbeit lernen die Menschen zu improvisieren und flexibler mit Veränderungen umzugehen. Du solltest einmal in einen meiner Workshops kommen”. “So ein Quatsch. Wer melkt dann die Kühe?”
Bäuerliche Routine versus Flexibilität
Als Bauer bestand der Arbeitsalltag meines Grossvaters wohl aus vielen Routinetätigkeiten: 365 Tage im Jahr die zwölf Kühe melken, im Frühling den Acker pflügen, im Sommer heuen und im Herbst das Obst ernten. In meinem Arbeitsalltag gibt es wenig Routine. Ich improvisiere auf der Theaterbühne und nutze Improvisationstheater zur Bearbeitung betrieblicher Problemstellungen in Unternehmen und Organisationen.
Oft geht es bei meiner Arbeit mit Unternehmen um Veränderung. Also darum, dass MitarbeiterInnen (Anm. d. Red.: Sehr schön gegendert! Was dein Grossvater dazu wohl gesagt hätte?), die zum Teil jahrelang eine bestimmte Routine verfolgt haben, nun von einem Tag auf den anderen ihre Arbeitsweise ändern müssen. Die neuen Abläufe sind rational meistens klar und logisch erfasst. Im Vorfeld der Neuerungen gibt es Organigramme, Prozessbeschreibungen und Schulungen. Aber wie geht es den Menschen emotional dabei? Was sind ihre Ängste? Erwartungen? Befürchtungen? Mit Unternehmenstheater machen wir diese menschliche Seite von Veränderungen sichtbar und die unterschwelligen Emotionen erlebbar.
Veränderung oder Beständigkeit?
Vor zwei Wochen waren wir für ein Schweizer Lebensmittelkonzern tätig. Es ging um Veränderung. Genauer um eine neue IT-Lösung, die demnächst implementiert werden soll. Zu Beginn unseres Workshops fragten wir die 20 anwesenden Führungskräfte: “Wer von euch liebt Veränderung? Und wer mag Beständigkeit?”. Nicht überraschend signalisierte rund die Hälfte, dass sie eine gewisse Beständigkeit mag. Die andere Hälfte war offen für Veränderung. Und doch war ich nicht bei allen Veränderungswilligen überzeugt, dass sie Neues und Unerwartetes von Herzen lieben.
Viele Menschen sträuben sich gegen Veränderungen. Häufig erleben wir zu Beginn eines Workshops Abwehrhaltungen, wenn wir erklären, dass wir mit den Mitteln des Improtheaters arbeiten. Regelmässig sehen wir hochgezogene Augenbrauen und gerunzelte Stirnen. Wir müssen uns das Vertrauen der TeilnehmerInnen erst erarbeiten. So auch bei besagtem Konzern. Umso befriedigender empfand ich zum Schluss der Veranstaltung den Einwurf einer anfangs eher skeptischen Teilnehmerin: “Ich haben diese Theaterszenen gebraucht, um mir zu verdeutlichen, wie es uns mit dieser Veränderung geht und um offen über unsere Gefühle und Ängste sprechen zu können.”
Ängste sicht- und spürbar machen
Leider können wir mit Unternehmenstheater den Menschen nicht die Angst vor den anstehenden Veränderungen nehmen, aber wir können helfen, sie sicht- und spürbar zu machen, um eine konstruktive Diskussion darüber in Gang zu bringen.
Wie mein Grossvater wohl mit tiefgreifenden Veränderungen in seinem Leben umgegangen ist? Zum Beispiel, als er wegen einer Bürgschaft sein Hof verkaufen und wieder als einfacher Melker Arbeit suchen musste. Oder als sein ältester Sohn Willi mit 17 Jahren plötzlich verstarb. Auch wenn ich die Antwort auf diese Fragen leider nicht kenne, eines weiss ich mittlerweile: Ich setzte mich mit Leidenschaft für Improtheater ein und hoffe, dass ich mit seinen Methoden ein paar Menschen den Umgang mit grossen und kleinen Veränderungen erleichtern kann. Egal ob in Grosskonzernen oder auf einem Bauernhof im Toggenburg.