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In seinem Blogbeitrag beschreibt Sven Stickling, warum Fragen in der Impro, beim Unterrichten und im Leben so wichtig sind. Und er stellt die Frage, ob Meinungen nicht sogar gefährlich sein können.
Der Text ist ein Teil einer diskursiven Blogbeitrags-Koproduktion mit Gerald Weber, der in seinen Beitrag “Meinungen sind Geschenke, keine Waffen!” darüber schreibt, warum Meinungen (seiner Meinung nach) so wichtig sind und warum Fragen störend sein können.
Ich bin ein Frager, jedenfalls wird mir das immer wieder gesagt. Tatsächlich frage ich in vielen Lebenssituationen lieber zweimal nach, finde heraus, taste mich langsam voran. Erst dann mag ich eine Entscheidung treffen. Es ist meine präferierte Art, das habe ich gelernt, ich bin ein eher vorsichtiger Mensch. Zugleich weiß ich, dass irgendwann klare Entscheidungen getroffen werden müssen. Je nach Lebensbereich früher oder später. Am Anfang jedoch steht bei mir zumeist die Frage. Auch auf der Bühne und beim Unterrichten. Fragen ist eine Tugend.
Wer, wie, wo, was, warum? Was braucht es? Braucht es mich? Entwickelt sich eine Geschichte natürlich oder versuche ich sie die ganze Zeit im Kopf zu führen und zusammenzuhalten? Bin ich im Moment oder im Kopf? Zu viele Fragen können auch gefährlich sein, denn sie bringen mich zu sehr in den Kopf.
Impro als metaphysische Kunst
Impro ist in dieser Hinsicht eine metaphysische Kunst. Zwar benutze ich Improtools (Cuts, Erzähler, …) zum Geschichtenerzählen, aber dahinter steckt immer etwas größeres, die Verbundenheit mit allem. Sie ist es, welche die Menschen im Publikum und auf der Bühne verzaubern kann. Doch wie schwer ist sie zu greifen? Ungemein!
Das, was auf der Bühne geschieht, kann ich nicht vollends mit Denken begreifen, ich kann es aber spüren. Der Kopf hilft mir vor allem dann, wenn es mal nicht so richtig flutscht, wenn ich nicht richtig verbunden bin mit der Geschichte und den Figuren, mit dem Grossen und Ganzen. Ich strebe jedoch danach, die bewussten Steuerungsmomente niedrig zu halten. Da, wo die Dinge einfach passieren, wird Impro zur Kunst und kommt dem Göttlichen sehr nah. Das Große und Ganze kann nur mit allen Sinnen erlebt und kaum gedacht werden.
Wie eine Fata Morgana
Ich behalte auch auf der Bühne das Wissen ums Nichtwissen und die Unfassbarkeit des Ganzen stets in meinem Hinterkopf. Denn egal wie nah ich der Wahrheit zu sein glaube, sie ist wie eine Fata Morgana – falsch, täuschend, unerreichbar mit Sprache und Meinungen. Kaum glaube ich zu haben, verschwindet sie schon wieder, wird in Frage gestellt oder stellt sich selbst in Frage. Wir können ihr uns immer nur annähern, am besten durch beständiges Hinterfragen. Alles andere ist in meinen Augen fatal.
Der fragende Weg dahin ist für mich immer das Ziel. Für jeden Weg brauche ich Schritte und für jeden Schritt muss ich schauen, wohin ich ihn setze. Einfach losrennen, blindlings drauflos, führt selten zum gewünschten Ziel. Da frage ich lieber einmal zu viel als zu wenig, auch als Mann. Ich erkunde, nähere mich an, statt das scharfe Schwert der Meinung und endgültigen Entscheidung herauszuholen und dem anderen damit in die Brust zu stossen.
Bauch oder Kopf?
Nun gebe ich gerne zu, dass es immer wieder klare Entscheidungen auf der Bühne braucht, damit die Szene nicht im Nichts verläuft. Die Frage ist jedoch: Wie treffe ich diese Entscheidung? Aus dem Bauch heraus oder aus dem Kopf? Ist sie gefühlt oder gewollt bzw. forciert?
Ich bin mir eigentlich nur in einem sicher: Es gibt kein Richtig und kein Falsch, kein Gut und kein Schlecht. Es gibt immer nur Deutungen und Meinungen dazu. Und mit diesen kann ich polarisieren, wenn ich will. Eine Meinung ist eine selbstverliebte Aussage mit narzisstischem Hintergrund. Wenn ich jedoch Fragen stelle, kann ich mich jedem annähern und ihn vielleicht sogar verstehen, sogar den Radikalsten.
Das Ziel jedes Fragens
Nun besteht anderseits die Gefahr, alles so weit in Frage zu stellen, dass nur noch in Frage gestellt und nicht mehr gehandelt wird. Das Ziel jedes Fragens muss am Ende das Handeln bzw. das Anpassen des Handelns sein, sonst ist jede Frage unnütz. Beim Unterrichten zum Beispiel bin ich der Ansicht, dass klare Anweisungen verbunden mit reflektierenden Fragen den Schülern am meisten helfen. Gleichzeitig sollen sie permanent sich und mich hinterfragen, konstruktiv versteht sich. Ich bin ein lernender Lehrer, kein weiser Diktator.
Es gibt nicht die Wahrheit, die ich ihnen vermitteln kann, sie müssen ihre Wahrheit finden. Und das geht am besten durch gestellte Fragen und durchs hinterfragen auf allen Ebenen. Ein pädagogischer Ansatz. Im Zentrum steht der Mensch als reflexives Erfahrungswesen, im Gegensatz zum Behauptungswesen. Das fühlende Herz ist der Erfahrung näher als der denkende Kopf. Wenn ich Impro unterrichte, will ich mit dem Herz unterrichten. Ich möchte etwas im anderen auslösen, sie oder ihn etwas erfahren lassen, ihm oder ihr etwas über die Bühne hinaus mit auf den Weg geben.
Fragejugend statt Hitlerjugend
Fragen sind es, die den Menschen dazu bringen, sich zu entwickeln. Fragen wie: Was kann ich anders machen? Welche Auswirkungen hat mein Handeln auf die Szene, auf meinen Mitspieler, auf mich? Ausprobieren, hinterfragen, verändern. Kindern helfe ich am meisten, indem ich sie dazu anrege, die Welt zu erforschen und Fragen zu stellen. Fragejugend statt Hitlerjugend. Entdeckungsmensch statt Herrenmensch. Das Gegenstück zur Behauptung ist die Enthauptung, das Gegenstück zur Frage ist die Antwort…
In der Bibel steht geschrieben: „Am Anfang war das Wort.“ Eine Aussage. War am Anfang das Wort? Das kann jeder behaupten, wissen tut es nur derjenige, der dabei war. Ich könnte behaupten „Am Anfang war die Haselnuss“ und darauf bestehen, dass das am Anfang der Bibel stehen müsste, weil das eben so war. Umgehend könnten wir eine kontroverse Diskussion starten, über Stunden hinweg. Das fände ich jedoch viel, viel, viel zu mühsam. Ich muss nicht über alles diskutieren, ich kann manche Dinge auch einfach und wortwörtlich so stehen lassen.
Gefährliche Behauptungs-Fundamentalisten
Wobei: “Am Anfang war die Haselnuss”, was die Kreationisten dazu wohl sagen? Die Menschen, die Wort für Wort an die Bibel glauben? Diese nicht reflektierenden Behauptungs-Fundamentalisten (das Wort habe ich gerade erfunden)?! Sie behaupten und glauben blindlings. Sie sind gefährlich wie der IS, weil sie behaupten und nicht hinterfragen. Wer den IS hinterfragt, gefährdet sein Leben. Fundamentalisten haben verlernt sich tiefgreifend zu hinterfragen. Fragen bringen uns voran, ich mag Fragen. Dieser ganze Absatz ist übrigens eine Behauptung. Eine stimmige oder eine aggressive? Jetzt bloß keine Diskussion… ;-)
„Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage; Die blaue oder die rote Pille?“. Was braucht es auf der Bühne? Wer sind wir? Wo sind wir? Und was machen wir? Was brauchen meine Schüler? Und was brauche ich? Ich brauche nicht auf jede Frage sofort eine klare Antwort, allein die Fragen verändern schon mein Verhalten, verändern das Geschehen – und können zu mehr Tiefgang führen.
Es gibt nicht immer DIE eine Antwort, die richtige und/oder die falsche. Manches kann einfach nicht beantwortet werden, nicht mit Worten. Das Wort ist menschlich, das göttliche ist unbeschreiblich – und deshalb ist die Bibel nicht göttlich sondern menschlich. Ambiguitätstoleranz nennt sich das Aushalten des nicht eindeutig Beantwortbaren, der Widersprüche. Ich kann von manchem nur eine Ahnung haben, es erspüren, ich muss nicht stets alles ausdiskutieren bis das Richtige gefunden ist. Kann es daher sein, dass nur Fragen und nicht Behauptungen bzw. Meinungen, beantwortet oder unbeantwortet, letztendlich den rechten Weg zur tiefergehenden Erkenntnis pflastern können?
An dieser Stelle endet der Beitrag “Fragen sind Geschenke, Meinungen Waffen!” von Sven Stickling, den Beitrag “Meinungen sind Geschenke, keine Waffen!” von Gerald Weber findest du HIER.