Der Improblog
Geheimnisse, Erlebnisse, Meinungen zu Improvisation
Hallo lieber Leser, liebe Leserin,
von heute an wollen wir dieses Improblog neu beleben. Abwechselnd (zunächst im Abstand von zwei Wochen) werden verschiedene Autoren ihre persönliche Sicht auf die Welt der Improvisation verschriftlichen und mit euch teilen. Thematisch ist ihnen (fast) keine Grenze gesetzt. Was immer sie gerade beschäftigt, kann ihr Thema sein, solange es in Zusammenhang mit dem wundervollen Wort Impro(visationstheater) steht. Gemeinsam ist allen Autoren und Autorinnen, dass sie für das Zürcher Improvisationstheater anundpfirsich spielen und unterrichten.
Der ein oder andere mag sich an dieser Stelle fragen: „Warum sollte mich das interessieren?“ Nun, weil jeder einzelne Autor (und jede Autorin) etwas zu sagen hat. Weil jeder seine ganz persönlichen Improgedanken und -erlebnisse teilen möchte. Um zu inspirieren, zu motivieren, zu provozieren. Und nicht zuletzt, um den Austausch zu suchen.
Den Anfang macht an diesem Tag Gerald Weber. Sein Beitrag trägt den Titel Angst. Viel Vergnügen!
Ich lebe einen Traum: Ich bin Improspieler. Ich habe das, was man als Angst bezeichnet, abgelegt und gelernt, mich mit nichts vor Leute zu stellen und zu vertrauen. Mir zu vertrauen, meiner Partnerin, meinem Partner und der Improvisation. Ich kann aus nichts etwas machen und Menschen wollen das sehen. Und da wäre Angst ein schlechter Begleiter. So weit das Ideal. Um ehrlich zu sein: Ich habe Ängste!
Ich habe Angst vor der Zukunft. Ich habe Angst vor der Beurteilung durch die Zuschauer, durch meine Schüler und durch meine Kollegen. Und ich habe Angst, dass der Traum, den ich hier (im Impro) leben darf, irgendwann vorbei ist.
Wie soll ich mit dieser Angst umgehen? Auf der einen Seite kann mich diese Angst lähmen, auf der anderen Seite kann ich sie überspielen. Manchmal ist sie nicht da, aber fast immer schleicht sie sich irgendwann ein.
Ich glaube, ein Grund für meine Angst ist die Flüchtigkeit dieser Sache namens Impro. Alles ist – und dann auch gleich wieder weg. Nichts bleibt. Nichts, was ich vorzuzeigen habe, nur Erinnerung und Beurteilung. Alles ist subjektiv und viel zu oft auch unehrlich. Randy Dixon sagte einst: «In the end, all I have to show for are a bunch of Improv T-Shirts.»
Manchmal macht mich das fertig. Ich fühle mich scheisse. Ich fühle mich unbedeutend, ungesehen, ungewollt, unwürdig. Ja, ich leben meinen Traum, aber er hat Schattenseiten. Man kann leider keine Souvenirs von einem Traum mitbringen. Wenn man von so etwas wie Impro leben möchte, ist vermutlich eine der grössten Herausforderungen, zu lernen mit diesem Nichts umzugehen.
Lernen. Vielleicht liegt genau hier eine Antwort verborgen. Denn Angst kann auch eine positive Macht sein. So lähmend sie sein kann, ist sie doch auch immer wieder ein Antrieb zu lernen, weiterzumachen und neues zu entdecken. Was hat die Angst mit mir gemacht und kann ich daraus etwas lernen? Wovor habe ich denn eigentlich Angst? Und ist es immer wieder diese Angst vor der Beurteilung, die mich dazu bringt mich zu entziehen? Wie kann ich meine Zukunft gestalten, um meiner Angst gerecht zu werden?
Schliesslich ist Angst ein Gefühl, welches auf die Zukunft verweist. Ein Zukunftsgefühl. Die Konsequenzen eines zukünftigen Ereignisses machen uns Angst. Daher kann ich Angst auch nutzen! Sie ist ein Zukunftskompass. Sie zeigt mir, wo ich mich weiterentwickeln kann. Wo noch Lücken sind und was ich angehen kann. «Follow your fear» sagte Del Close.
Angst hält mich oft auf den Zehenspitzen. Hält mich wach und konzentriert. Wenn sie weg ist, besteht eine grosse Gefahr. Die Gefahr, flach und mittelmässig zu werden. Auch das ist schon passiert.
Vielleicht sollte ich der Angst einfach mal dankbar sein. Vielleicht ist es diese Angst gewesen, die es mir überhaupt erst ermöglicht hat, meinen Traum zu leben. Diese Angst, die mich antreibt, die Zukunft besser zu machen als die Gegenwart und die Vergangenheit.
Ich kann die Angst ablegen. Wenn ich auf der Bühne bin, fühle ich mich meist wohl und sicher. In diesen Momenten kann ich Keith Johnstone’s Satz «Be average.» meistens leben. Genauso oft kann ich sie nicht ablegen – meistens abseits der Bühne. Sie gehört eben auch zu mir und macht mich zu dem Menschen und dem Improspieler, der ich bin.
Einer, der gerne Risiken eingeht und einer, der Angst hat. Einer, der gerne die Zukunft gestaltet und einer, der Angst vor der Beurteilung anderer hat. Einer, der an die Impro, sich und die Zukunft glaubt. Und einer, der weiter versuchen wird mit der Angst als Begleiterin, Quälerin, Freundin und Antreiberin umzugehen.
Und zu guter Letzt ist es diese Angst, die mich mit diesem Text bis zur letzten Sekunde der Abgabefrist warten lässt, die Angst vor den Reaktionen und noch grössere vor den „Nicht-Reaktionen“ zu diesem Text. Aber ich schiebe diese Angst jetzt mal zur Seite, denn zum Glück habe ich einen Redakteur, der dies nochmals liest [Anm. der Redaktion: Der Redakteur hat nun ebenfalls Angst. Angst, etwas zu redigieren, Fehler zu übersehen, Sinn zu verändern … ;-)].
Was ich nicht vergessen darf: das beste Mittel gegen meine Angst ist wahrscheinlich das Vertrauen in meine Partner. Ist die Bereitschaft, offen mit meiner Angst umzugehen, sie zu teilen und den Menschen zu vertrauen, dass sie mit meiner Angst gut umgehen. So mache ich meine Angst hoffentlich zu einem Gefährten.